lana caprina

Tuesday, November 01, 2005

Das Erdbeben und die Wasserbewegung vom 1. November 1755.

Der Augenblick, in dem dieser Schlag geschah, scheint am richtigsten auf 9 Uhr 50 Minuten Vormittags zu Lissabon bestimmt zu sein, diese Zeit stimmt genau mit derjenigen, da es in Madrid wahrgenommen worden, nämlich 10 Uhr 17 bis 18 Minuten, wenn man den Unterschied der Länge beider Städte in den Unterschied der Zeit verwandelt. Zu derselben Zeit wurden die Gewässer in einem erstaunlichen Umfange, sowohl diejenige, die mit dem Weltmeere eine sichtbare Gemeinschaft haben, als auch welche darin auf eine verborgene Art stehen mögen, in Erschütterung gesetzt. Von Abo in Finnland an bis in den Archipelagus von Westindien sind wenig oder gar keine Küsten davon frei geblieben. Sie hat eine Strecke von 1500 Meilen fast in eben derselben Zeit beherrscht. Wenn man versichert wäre, daß die Zeit, darin sie zu Glückstadt an der Elbe verspürt worden, nach den öffentlichen Nachrichten ganz genau auf 11 Uhr 30 Minuten zu setzen wäre, so würde man daraus schließen, daß die Wasserbewegung 15 Minuten zugebracht habe, von Lissabon bis an die holsteinischen Küsten zu gelangen. In eben dieser Zeit wurde sie auch an allen Küsten des Mittelländischen Meeres verspürt, und man weiß noch nicht die ganze Weite ihrer Erstreckung.
Die Gewässer, die auf dem festen Lande von aller Gemeinschaft mit dem Meere scheinen abgeschnitten zu sein, die Brunnquellen, die Seen,wurden in vielen weit von einander entlegenen Ländern zu gleicher Zeit in außerordentliche Regung versetzt. Die meisten Seen in der Schweiz, der See bei Templin in der Mark, einige Seen in Norwegen und Schweden geriethen in eine wallende Bewegung, die weit ungestümer und unordentlicher war als bei einem Sturme, und die Luft war zugleich stille. Der See bei Neuchatel, wenn man sich auf die Nachrichten verlassen darf, verlief sich in verborgene Klüfte, und der bei Meiningen that dieses gleichfalls, kam aber bald wiederum zurück. In eben diesen Minuten blieb das mineralische Wasser zu Töplitz in Böhmen plötzlich aus und kam blutroth wieder. Die Gewalt, womit das Wasser hindurch getrieben war, hatte seine alte Gänge erweitert, und es bekam dadurch einen stärkern Zufluß. Die Einwohner dieser Stadt hatten gut te Deum laudamus zu singen, indessen daß die zu Lissabon ganz andere Töne anstimmten. So sind die Zufälle beschaffen, welche das menschliche Geschlecht betreffen. Die Freude der einen und das Unglück der andern haben oft eine gemeinschaftliche Ursache. Im Königreich Fez in Afrika spaltete eine unterirdische Gewalt einen Berg und goß blutrothe Ströme aus seinem Schlunde. Bei Angoulême in Frankreich hörte man ein unterirdisches Getöse, es öffnete sich eine tiefe Gruft auf der Ebene und hielt unergründliches Wasser in sich. Zu Gçmenos in Provence wurde eine Quelle plötzlich schlammicht und ergo sich darauf roth gefärbt. Die umliegende Gegenden berichteten gleiche Veränderungen an ihren Quellen. Alles dieses geschah in denselben Minuten, da das Erdbeben die Küsten von Portugal verheerte. Es wurden auch hin und wieder in eben diesem kurzen Zeitpunkte einige Erderschütterungen in weit entlegenen Ländern wahrgenommen. Allein sie geschahen fast alle dicht an der Seeküste. Zu Cork in Irland, imgleichen zu Glückstadt und an einigen andern Orten, die am Meere liegen, geschahen leichte Bebungen. Mailand ist vielleicht derjenige Ort, der noch in der weitesten Entfernung von dem Seeufer an eben demselben Tage erschüttert worden. Eben diesen Vormittag um 8 Uhr tobte der Vesuvius bei Neapolis und ward stille gegen die Zeit, da die Erschütterung zu Portugal geschah.

IMMANUEL KANT, Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat [1756]

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